Einräume

Zwischen Ebbe und Flut 

Das Spiel der Natur ist ein sich rhythmisch wiederholender Zyklus, dass sich mit jedem Zyklus neu erfindet — ein stetes Werden und Vergehen.

»Einräume« ist eine konzeptionelle Studie, die den Lebenskreislauf in Form eines Meditationsgartens architek­to­nisch abbildet, in welcher der Spazier­gän­ger durch reine Anschauung auf sein innerstes Selbst (i. S. Lurker) sich kontem­plativ versenken kann. Gewählt wird ein quadratisch abgesteckter Landschafts­raum auf der Insel Sylt, unter Einbeziehung der Gezeiten Ebbe und Flut und der Dünenlandschaft. Exemplarisch für die zyklischen Sta­tionen stehen die Tages­zeiten Morgen, Mittag, Abend und Nacht, analog dazu die Lebens­abschnitte Geburt, Jugend, Alter und Tod für den Entwurf der vier Einräume.

»Im Ungesagten das Unsagbare sagen.« Toyotama Tsuno

Lage

Zwischen Ebbe und Flut

Fragmente eines Ortes der Beschaulichkeit

»Einräume« als Metapher für die Ge­samtheit des Lebens beschriebt dies als Weg mit Orten und Häusern als Sta­tionen, die wir im Leben durch­schrei­ten. Sta­tion wie das »Haus für den Morgen«, »Ort für die Mitte des Tages«, »Haus für den Abend« und »Ort ohne Wiederkehr«, analog Geburt, Jugend und Reife. Mit dem Greisenalter schließt sich der Lebenskreis, der mit der Flut abgeschnitten den Tod betritt und mit der Ebbe einen neuen Zyklus zu beginnen. Die um 7° aus der N/S- und W/O -Achse getreten Einräume versinnbildlichen das durch den freien Willen des Menschen Unvorhersehbare.

»Was ist der Weg? Er liegt vor deinen Augen.« Wei-kuan

Einraum I

Haus für den Morgen

Ort der Jugend

Das Betreten des »Hauses für den Morgen« durch die kleine Öffnung, nachdem ein schmaler geschwun­ge­ner Pfad durch das Seegrasfeld durch­schritten wurde, beschreibt den Weg bis zur Geburt. Sinnbildhaft öffnet sich nach dem Durchqueren »Haus für den Morgen« Licht durchflutet gen auf­steigender Morgen­sonne, dem-Licht-des-Lebens entgegen und begrüßt den Wanderer mit der frischen offenen Wärme eines neuen Tages. Das Neu­geborene erwacht aus seinem noch unberührten Leben. Aus dem ge­schütz­ten Raum heraus, schweift sein Blick gen Osten in die Weite eines unbekannten Weges, der vor ihm liegt. Das Tönen des vom Wind schwin­gen­den Seegras erfüllt die noch unbe­rührte Luft des Morgens.

»Der große Morgen — Winde aus alten Zeiten wehen durch die Kiefer.« Onitsura

Einraum II

Ort für die Mitte des Tages

Ein Sonnenplatz

Der »Ort für die Mitte des Tages« ist der Ort des in der Mitte des Lebens stehen­den Menschen, verkörpert durch eine Sonnenuhr auf der Hochebene einer Sanddüne. Geleitet vom »roten Faden« des hölzernen Stegs durch­schreitet der Mensch die »Bögen« der Zeit, die sich linear verkürzen mit proportional län­ger werden Schatten. Von dort hinaus in die Welt, führt der Weg hinein in den sonnigen Tag auf die Anhöhe einer Düne zur Mitte des Tages, um schließ­lich in der Düne versanden. Die Son­nen­uhr als Symbol für die Uhr-des-Lebens, verkörpert hier die Endlichkeit allen irdischen Lebens und zugleich die Unendlichkeit des universellen Bewusst­­seins im immerwährenden Kreislauf.

»Was ist der wahre Weg? Der alltäglich!« Chao-chou

Einraum III

Haus für den Abend

Ort der Stille

Dem Lauf der Sonne Richtung Westen folgend, führt der Weg ins »Haus für den Abend«, ein in sich rechteckig ab­geschlossener Kubus aus Ziegelstein, tief in die Erde hinein gegraben. Dies ist der Ort der Greisen, jenen, die die Weis­heit des Lebens ins sich tragen. Über eine schmale, von zwei Wand­scheiben flankierte, Treppe führt der Weg des Wanderers in die Tiefe, deren Lauf vor einer Wand endet und ihn zwingt seitlich den Raum zu betreten, wo ihn ein aus dem Oberlicht ein­fallende Licht­reflektion empfängt, ausge­richtet auf die letzten Sonnen­strahlen des Abends, die die rote Ziegelwand »befeuert«, gleich dem transfor­mieren­den Feuer einer Im­plosion. Über eine Wendeltreppe verlässt der Besucher den »Ort der Stille« hinauf in die Freiheit der Oberfläche als Sinnbild einer theologischen Treppe, die den Aufstieg von einer niedrigeren zu einer höheren Bewusstseinsebene bezeich­net, gleich der vom physischen Körper befreiten auf­steigenden Seele.

»Um des Leeren willen hat der Meister das Haus erbaut.« Toyotama Tsuno

Einraum IV

Ort ohne Wiederkehr

Ort der Leere

Dies ist das Haus der Nacht, ein »Ort ohne Wiederkehr«. Hier endet der Tag und wird zur Nacht. Hier endet das Leben um sich für einen weiteren Zyklus zu erneuern. Der Steg, der das Ufer mit dem Plateau im Meer ver­bindet, versinn­bild­licht die Brücke zwischen Leben und Tod. Es ist die Brücke zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, der Ort der Versöhnung mit dem Tod. Die Flut überspült all­mählich den Steg, während sich das Becken in der Mitte der Pyramide füllt und die Verbindung zum Festland trennt, einzig der obere Ring auf der Pyramide bleibt im trockenen. Der Besucher steht umspült vom Meer auf diesem allein zurück, getrennt vom Leben auf dem Festland. Der Tag ver­sinkt im Meer, der Mond steigt am Nachthimmel auf. Im Zentrum der Pyramide bildet eine kreisrunde Ver­tiefung ein Auffangbecken für das über­flutende Meerwasser, worin sich der Mond spiegelt.

»Wenn ich das Wasser schöpfe, ist der Mond in meiner Hand!« Zen Koan

Daten

Ausstellung I Publikation

»Einräume« 1991
Ein Ort der Beschaulichkeit oder ein Garten für die Meditation I Ausstellung im Foyer der Akademie dbK München

einraeume-mappe.pdf
Mappe I Sammlung mit Architekturzeichnungen, Illustrationen und Texten

»Sehen und Nicht-Sehen das ist richtiges Sehen.« Hui-neng

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